In einem langfristigen Projekt werden Gemälde und Zeichnungen aus den Sammlungen des Historischen Museums der Pfalz in Speyer von Künstlern der Region mit Unterstützung des Landes Rheinland-Pfalz digitalisiert und der Öffentlichkeit über „museum-digital“ zur Verfügung gestellt. Worin liegt die Bedeutung dieser Maßnahme?
von Wolfgang Leitmeyer, Abteilungsleiter Sammlungen
Von der Relevanz alter Zeichnungen
27. Februar 2021. Die Pandemie ruft zum Jahresbeginn recht unerwartete Effekte hervor. Geschäfte, Restaurants, Museen, Ämter, Fitnessinstitute und viele andere Orte des öffentlichen Lebens bleiben geschlossen. Zugleich steigt der Absatz von Outdoor-Produkten im Internet… zum Beispiel von Wanderschuhen. Offenbar finden viele Menschen zurück zu den primären Fortbewegungsformen in der Natur. Was bleibt Ihnen auch übrig, die Museen haben schließlich noch immer geschlossen. Während der ersten Sonnentage haben die Seen, Flüsse, Wälder hohe Besuchsfrequenzen. In der Pfalz sind es die Burgen, der Pfälzerwald, die Weinanbaugebiete und die Rheinpromenaden, die zu Besuchen motivieren.
Vor fast genau 200 Jahren, im Mai 1821, wanderte auch der Künstler Friedrich Christian Reinermann von Burg zu Burg in der Pfalz. Er hatte allerdings keine Wahl. Die Überwindung auch großer Strecken zu Fuß war die geläufige Form der Fortbewegung für die ärmeren Schichten der Bevölkerung. Heinrich Jakob Fried, Jakob Wilhelm Roux, aber auch Peter Gayer, der erste Archivar der Pfalz – sie alle reisten in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zu Fuß und hinterließen Zeichnungen von Orten, die viele von uns in den letzten Tagen vielleicht gerade besucht haben.
In den letzten 200 Jahren veränderte sich das Gesicht der Städte und Landschaften mehr als jemals zuvor. Fried, Roux, Reinermann und Gayer würden staunen, wenn sie ihre alten Wege nochmals gehen dürften. Umgekehrt fehlt uns heute ein genaues Bild der Welt, bevor es Joseph Nicéphore Niépce 1826 gelang, das allererste Foto aufzunehmen. Wir sind auf die Darstellungen von Künstlern angewiesen, um einen Zugang zu der Welt unserer Ururgroßmütter und Ururgroßväter zu finden. Wenn Sie sich fragen: „Wie hat sich der Ort, wo heute mein Haus steht, wo sich heute unser Marktplatz und vieles andere befindet, in den letzten 200 Jahren verändert?“, so kann Ihnen vielleicht der Blick in eine Datenbank wie „museum-digital“ weiterhelfen. Je mehr bildliche Zeugnisse verfügbar sind, desto mehr Nahrung wird Ihre Phantasie finden und vielleicht auch Ihre Neugierde.
Beispiel Speyer
Die Beseitigung der Stadtbefestigung und vieler Ruinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Ergebnis eines langen und schmerzhaften Prozesses seit dem großen Stadtbrand von 1689. Die Maßnahmen veränderten das Gesicht der Stadt dauerhaft. Heute sind die Zeichnungen von Peter Gayer (1793–1836) häufig die einzig verfügbaren Quellen zu vielen architektonischen Zeugnissen der Stadt sowie der pfälzischen Geschichte. Darin liegt die Relevanz seiner Veduten für die Stadt, aber auch für die Region.
Peter Gayer und die Zeugen der Vergangenheit
„Die alten Ruinen haben schon viel zu lange die Zugänge zu dieser Stadt verunstaltet und könnten wegen Steinschlags gefährlich werden. Das Terrain innerhalb dieser Gemäuer ist Lagerstätte für alles, was man sich vorstellen kann, das die Augen beleidigt und mit seinem Geruch die Passanten belästigt. Es erscheint mir, dass der Wert dieser Steine nicht nur für den Abriss, sondern auch für den Wiederaufbau von Häusern ausreicht.“
Quelle: „Verschönerung der Straßen der Stadt durch Entfernen der alten Gemäuer“, Archiv der Stadt Speyer Bestand 2 Nr. 163
In Speyer begann um 1800 eine Zeitenwende: Die Stadt war nun eine Grenzstadt der Französischen Republik, das Arrondissement Spire gehörte zum neuen Département Mont-Tonnère. Die vorangestellten Zeilen des Unterpräfekten Edmond Marie Amable Verny stammen aus einem Memorandum an Georg Friedrich Hetzel vom 26. Juli 1809. Er offenbarte dem neuen Bürgermeister darin seine Gedanken zur Verschönerung der Stadt.
Verny kannte natürlich das Geheimnis der lästigen Gemäuer in Speyer, an welchen sein ästhetisches Empfinden Anstoß nahm: Am Pfingstdienstag, den 31. Mai 1689, abends um 18 Uhr, hatten die verbliebenen Einwohner der Freien Reichsstadt Speyer eine Apokalypse erlebt. Was der Dreißigjährige Krieg nicht vermocht hatte, geschah nun innerhalb von drei Tagen. Am 2. Juni lagen drei Stifte, fünf Klöster, acht Pfarrkirchen, 13 Kapellen, 14 Zunftstuben, 29 städtische Gebäude, 788 Bürgerhäuser sowie fast das gesamte Langhaus des Domes in Schutt und Asche – die Politik der verbrannten Erde hatte eine praktische Anwendung gefunden. Der Anspruch König Ludwigs XIV. auf linksrheinische Reichsterritorien provozierte einen Konflikt, der sich letztlich an den Streitigkeiten um das Erbe des Kurfürsten Karls II. von der Pfalz entzündete. Als Reaktion auf die vorrückenden Kräfte der Großen Wiener Allianz verwüsteten französische Truppen systematisch die Pfalz und angrenzende Gebiete. Zahlreiche Dörfer, Burgen, Festungen, Kirchen, aber auch ganze Städte wie Speyer, Worms, Mannheim und Heidelberg wurden zerstört.
Der Wiederaufbau Speyers vollzog sich schleppend, zumal die Stadt auf französischen Befehl bis zum Friedensschluss von Rijswijk im Jahr 1697 nicht bewohnt werden durfte. Noch siebzig Jahre später war ein Drittel der Stadt zerstört. Steinerne Relikte zeugten von der großen Vergangenheit Speyers, das auch wirtschaftlich am Boden lag. Immerhin erhoben sich im Jahr 1772 wieder 767 Wohngebäude, 32 kleine Häuschen und 124 Hütten, die Arme in den Ruinenstätten errichtet hatten.
Der Anblick antiker Ruinen hatte schon mehr als zwei Jahrhunderte zuvor in Italien Humanisten und Künstler fasziniert. Auch in Speyer empfand man angesichts der zerfallenden Gemäuer zuweilen Begeisterung. Meistens waren es durchreisende Künstler und Literaten, die ihrer Freude an den Zeugnissen der Vergangenheit Ausdruck verliehen. In den „Briefen eines reisenden Franzosen über Deutschland“ rühmte Kaspar Risbeck 1783 die außerordentlich schönen Ruinen und die malerische Wirkung der zerstörten Stadt. Als Sophie de La Roche mit ihrer Familie 1780 nach Speyer zog, begeisterte sie ihren empfindsamen literarischen Zirkel für die Stadt. Es entstand der Plan, eine Mappe mit Kupferstichen und einigen Texten herauszugeben – eine Aufgabe, die der Landschaftsmaler und Zeichner Jean Francois Gout übernahm. Weitere Künstler wie Franz Stöber und Johannes Ruland folgen seinem Beispiel.
Mit dem Ende der französischen Zeit kam ab 1816 die bayerische Administration nach Speyer und mit ihr der Beamte Peter Gayer. Er trat seinen Dienst als zweiter Registrator bei der bayerischen Regierung des Rheinkreises an, seine Aufgabe war die Verwaltung des Schriftguts. Schriftzeugnisse zu bewahren und ihre Auffindbarkeit zu gewährleisten, gehörte zu seinen Kernaufgaben. Diese verantwortungsvolle Tätigkeit qualifizierte ihn bereits im Jahr 1820 zur Übernahme der Leitung des neu entstandenen Kreisarchivs. Das Interesse an der Geschichte lag durchaus im Trend der Zeit. Nachdem Freiherr vom Stein 1819 den ersten Historischen Verein ins Leben gerufen hatte, war es König Ludwig I. von Bayern selbst, der die Spitzen des Staates und der Gesellschaft 1827 zur aktiven Beschäftigung mit der Kultur der Vergangenheit aufrief. Selbstredend war Gayer zwei Mal, 1827 und 1834, Gründungsmitglied des Historischen Vereins der Pfalz. Die Rückbesinnung der Bürger, die sich seit vielen Jahren mit der Beseitigung von Ruinen beschäftigt hatten, auf die große Vergangenheit der Reichs- und Kaiserstadt lag auf der Hand. Die Städte als Spiegelbild bürgerlichen Selbstbewusstseins begannen sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts weit mehr zu verändern, als je zuvor. Man benötigte Platz für eine schnell zunehmende Einwohnerschaft, für Manufakturen, später für Fabriken, für Straßen, für eine verbesserte Infrastruktur und für Mobilität. Die Stadtbewohner kultivierten durchaus ein gewisses Interesse an der Vergangenheit, entledigten sich zugleich aber auch der alten Zeugnisse, wenn sie ihren Interessen entgegenstanden, ohne darin einen Konflikt zu sehen. Ein Beispiel dafür mag der Abriss der Ruine von St. Nikolaus nördlich des Domes im Jahr 1825 sein, an deren Stelle im folgenden Jahr die Antikenhalle erbaut wurde, deren einziger Zweck in der Erhaltung und Pflege von Zeugnissen der Vergangenheit – in diesem Fall von römischen Bodenfunden – bestand.
Möglicherweise war der Archivar Gayer nicht erfreut von den radikalen Veränderungen, die sich ringsum in Speyer vollzogen. Immerhin wurden zwischen 1819 und 1826 große Teile der Stadtbefestigung, die Ruinen vieler Kirchen, Klöster und Profanbauten beseitigt. So machte er es sich zur Aufgabe, das verschwindende architektonische Kulturgut der Pfalz in zahlreichen Veduten-Zeichnungen, ganz im Sinne der romantischen Kunst seiner Zeit, zu dokumentieren. Seine favorisierte Technik war die Bleistiftskizze, vor allem aber die Federzeichnung, die er mit Pinsel und Sepia – dem transparenten Farbstoff aus dem Sekret der Tintenfische – übermalte. Gayer interessierte sich nicht nur für Speyerer „Gemäuer“, sondern bereiste auch viele Orte der Region. Systematisch trug er präzise Ansichten von Burgen- und Kirchenruinen der Pfalz zusammen.
Die figürliche Staffage, die auf kaum einem seiner Werke fehlen durfte, zeigt dabei häufig Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten. Landarbeiter, Wäscherinnen, Handwerker und viele andere Gestalten bilden ein belebendes Element seiner Darstellungen. Nur wenige Jahre vor der Erfindung der Fotografie wurde er zum aufmerksamen Beobachter und Dokumentar zahlreicher Architekturzeugnissen der Pfalz, die nach und nach verschwanden oder baulich verändert wurden. Eines der Ziele seines kurzen Lebens hat Gayer – er verstarb im Alter von nur 43 Jahren in Speyer – sicherlich erreicht: Seine Zeichnungen bewahren viele architektonische Zeugnisse der pfälzischen Geschichte für die Nachwelt.
Sepiazeichnungen von Peter Gayer im Bestand des Historischen Museums der Pfalz (Auswahl)
- Burg und Ort Elmstein (Verbandsgemeinde Lambrecht) im Landkreis Bad Dürkheim
- Die Klosterkirche des Klosters „Zum Heiligen Grab“ in Speyer
- St. Peter in Speyer
- Retscherruine und Margarethenkapelle in Speyer
- Die Ruinen von Nikolauskapelle und Domstaffelturm in Speyer
- St. Amandus in Worms
- Die Burgruine Neuscharfeneck bei Ramberg
- Die Burgruine Grävenstein bei Merzalben
Fotografen: Peter Haag-Kirchner und die Ehrenamtsgruppe des Historischen Museums der Pfalz. Rechtestatus: CC-BY-NC-ND.